Vor 75 Jahren wurde Indien unabhängig. In der größten Demokratie der Welt konnten seither in einigen Bereichen große Erfolge verzeichnet werden, aber angesichts von Korruption, Armut und der Klimakrise steht das Land vor immensen Herausforderungen.
Ab August 1947 beschritt der neue, frisch von der Kolonialmacht Großbritannien unabhängige Staat unter seinem ersten Premierminister Jawaharlal Nehru den Weg in die Zukunft als das, was heute als bevölkerungsreichste, säkulare Demokratie der Welt gilt.
Viel hat sich getan in den vergangenen sieben Jahrzehnten. Wie steht es heute um das Land, dem so oft ebenso Pluralismus wie Einzigartigkeit und Widersprüchlichkeit bescheinigt werden?
Unter anderem auf der Habenseite: Indien ist der einzige Staat in Asien, der seit seiner Unabhängigkeit durchgängig demokratisch regiert wurde. Und die einzige Nation weltweit, in der für alle Einwohner*innen das allgemeine Wahlrecht vom ersten Tag ihres Bestehens galt.
Der politische indische Blogger Santosh Kumar Mohapatra nennt den Erfolg des Parlamentarismus, seine Rechtsstaatlichkeit und den Glauben der Menschen an die Demokratie als Indiens größte Errungenschaft – zumindest auf dem Papier.
Auch Zahlen zur Alphabetisierungsrate und der Lebenserwartung sind positiv zu bewerten: Erstere hat sich seit der Unabhängigkeit von 18 Prozent auf knappe 80 Prozent erhöht. Inder*innen, die im Jahr 1947 das Licht der Welt erblickten, wurden im Schnitt 32, heute werden sie mehr als doppelt so alt, ca. 70 Jahre.
Die Wirtschaft wuchs, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, über die vergangenen sieben Jahrzehnte stetig, mit wenigen Ausreißern, trotz des Wandels ab 1991 von einer staatlich gelenkten Wirtschaftspolitik zu einer neoliberalen.
Globaler Player. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit musste Indien Getreide importieren und war bis Mitte der 1960er Jahre auf internationale Nahrungsmittelhilfe angewiesen. 1963 wurde die Landwirtschaft im Zuge der „Grünen Revolution“ mit verbessertem Saatgut, Düngemitteln und Technologien versorgt.
Seither ist Indien zum Lieferant für andere Länder geworden: U. a. ist es der größte Rindfleischexporteur und der zweitgrößte Zuckerrohr- und Weizenproduzent der Welt – was das Land aktuell durch die Weizenengpässe wegen des Krieges in der Ukraine zu einem noch wesentlicheren Player für die weltweite Nahrungsmittelversorgung macht.
Dass die Regierung im Mai Exportbeschränkungen für Weizen verhängte, um die Ernährungssicherheit im eigenen Land zu gewährleisten, wurde mit der drohenden Hitzewelle begründet. Das zeigt auf, wo u. a. die zukünftigen Herausforderungen für Indiens Entwicklung liegen.
Im Frühling, zu Beginn der heißen Jahreszeit, litt Indien unter der schlimmsten Hitzewelle seit 1910. Die Folgen der Klimakrise machen sich in der Region schon seit längerer Zeit bemerkbar. Die Temperaturen werden wissenschaftlichen Prognosen zufolge künftig noch schneller und stärker ansteigen als in anderen Weltregionen.
Indien
Hauptstadt: Neu-Delhi
Fläche: 3,2 Mio. km2 (siebtgrößtes Land der Welt)
Einwohner*innen: 1,39 Mrd. (China 1,4 Mrd.)
Bevölkerungswachstum: 1 Prozent (2020, im Vergleich: China 0,2)
Durchschnittsalter (Median): 28,4 Jahre (2020)
Regierungssystem: Parlamentarische Bundesrepublik, Premierminister: Narendra Modi seit 2014
BIP pro Kopf: 1.927 US-Dollar (2020, Österreich: 48.588,7 US-Dollar)
Wichtigste Wirtschaftszweige: Dienstleistungssektor, Industrie, Landwirtschaft (beschäftigt die Hälfte der Erwerbstätigen)
Extreme Gletscherschmelzen in der Himalaya-Region, darauffolgende Dürren und Brände, Wasserknappheit und Stromausfälle werden Indien demnach fortan hart treffen.
Modis fünf Klimaziele. Als Indiens hindunationalistischer Premierminister Narendra Modi vergangenes Jahr beim Klimagipfel in Glasgow erklärte, sein Land, derzeit der drittgrößte Verursacher von CO2-Emissionen, könne Klimaneutralität erst im Jahr 2070 erreichen und werde noch lange auf seine zahlreichen Kohlekraftwerke angewiesen sein, war das Entsetzen unter Klimaaktivist*innen groß.
Allerdings hat Modi noch vier weitere Klimaziele bekannt gegeben, die internationale, unabhängige Beobachter*innen vorsichtig optimistisch bewerten: So sollen u.a. die CO2-Emissionen durch einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien bis 2030 pro Rupie Wirtschaftsleistung um 45 Prozent sinken, der Strommix im Jahr 2030 soll zur Hälfte aus Grünstrom bestehen. Um diese Ziele zu erreichen, forderte Modi auch massive finanzielle Unterstützung der Industriestaaten.
Großer Hunger. Gleichzeitig ist die Bekämpfung des Hungers in Indien eine dringende Herausforderung. Das Land belegte im Welthunger-Index 2020 Platz 94 von 107 Ländern. Rund 19,4 Millionen Inder*innen haben nicht genug zu essen, so viele Menschen wie in keinem anderen Land der Welt.
Zudem krankt das Gesundheitssystem: Schon vor der Corona-Pandemie, nach Jahren der Privatisierung des Sektors, gehörte das Gesundheitsbudget 2020 (Anteil der Gesundheitsausgaben am Gesamthaushalt) laut einem Oxfam-Bericht zu den niedrigsten der Welt.
Auch aktuell wird nur rund ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts dafür ausgegeben. Die Folge: marode, und viel zu wenige öffentliche Krankenanstalten für den Großteil der Bevölkerung.
Und: 70 Prozent der Gesundheitsversorgung werden inzwischen vom privaten Sektor erbracht und sind somit nur zahlungskräftigen Patient*innen zugänglich.
Dazu kam Covid-19. US-Forscher*innen gingen im Rahmen einer Studie zur Übersterblichkeit während der Pandemie von mehreren Millionen Toten in Indien aus, während die Regierung von einer halben Million sprach. „Das System ist nicht zusammengebrochen. Ein ‚System‘ hat kaum existiert. Das ist es, was passiert, wenn eine Pandemie ein Land mit einem kaum vorhandenen öffentlichen Gesundheitssystem trifft“, kommentierte Arundhati Roy, Schriftstellerin und politische Aktivistin, den Zustand des indischen Gesundheitssystems.
Ungleiche Verteilung. Sowohl der Hunger als auch die schlechte Gesundheitsversorgung können direkt mit der ungleichen Vermögensverteilung im Land in Zusammenhang gestellt werden. Nach Brasilien ist Indien dem Vermögensbericht 2021 der Schweizer Großbank Credit Suisse zufolge das Land mit der zweithöchsten Ungleichheit.
In einem Anfang 2022 erschienenen Bericht rechnet Oxfam India vor, dass die 98 reichsten (Milliardärs-)Familien des Landes mit einer Vermögenssteuer von einem Prozent die nationale öffentliche Krankenversicherungskasse für mehr als sieben Jahre finanzieren könnten. Sie besitzen gleich viel wie die ärmsten 550 Millionen Inder*innen.
Laut der Studie der NGO verdienen 23 Millionen Menschen davon weniger als 375 Rupien (4,60 Euro) pro Tag. Die Zahl der Armen mit einem Einkommen von maximal 2 US-Dollar (1,9 Euro) pro Tag sei aufgrund der Covid-19-Rezession um rund 7,5 Millionen Menschen gestiegen.
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Die indische Frauenbewegung ist eine der stärksten weltweit, sehr aktiv und divers. Es gibt dabei weder eine dominante Figur noch eine dominante Philosophie. Wie kreativ und vielfältig die feministische Bewegung in Indien ist und wie sie es über die Zeit geschafft hat, sich nicht zu spalten, beschreibt die Verlegerin und Schriftstellerin Urvashi Butalia in einem Beitrag im Rahmen eines Dossiers zu Indien im Südwind-Magazin 09/2017: suedwind-magazin.at/pinke-unterwaesche-fuer-moralapostel
Das Dossier liefert weitere Hintergrundinfos, etwa wichtige Eckpunkte der Geschichte Indiens: suedwind-magazin.at/eckpunkte-der-geschichte-indiens
Freiheiten unter Druck. Stabiles Wirtschaftswachstum, aber große Ungleichheit und immer mehr Arme: Diese Entwicklungen stehen im diametralen Gegensatz zum Entwicklungsbegriff des indischen Wirtschaftsnobelpreisträgers und Philosophen Amartya Kumar Sen, für den er in seinem 1999 erschienenen Werk „Development as Freedom“ (deutscher Titel „Ökonomie für den Menschen“) plädierte.
Sen sagt, Entwicklung könne nicht auf Wirtschaftswachstum reduziert werden. In seiner zentralen These geht er davon aus, dass Freiheit sowohl das Ziel als auch das Mittel zur Entwicklung ist. Eine Schlüsselbeobachtung in seinem Buch ist, dass „in einer funktionierenden Demokratie noch nie eine Hungersnot stattgefunden hat“.
Um die Demokratie steht es mittlerweile in Indien tatsächlich nicht gut. In einem im März 2021 vom schwedischen Varieties of Democracy Institute (V-Dem) veröffentlichten Bericht zu weltweiten Autokratisierungstendenzen wurde Indien als „Wahlautokratie“ eingestuft. Ein Großteil des Rückgangs der demokratischen Freiheiten sei nach dem Sieg Modis und seiner hindunationalistischen Partei Bharatiya Janata Party im Jahr 2014 erfolgt.
Den stärksten Rückgang verzeichnet V-Dem bei der Unterdrückung zivilgesellschaftlicher Organisationen, bei akademischen und religiösen Freiheiten und der Autonomie der indischen Wahlkommission. Zudem gebe es eine starke staatliche Zensur der Medien. Im Ranking von Reporter ohne Grenzen zur weltweiten Pressefreiheit ist Indien von 2020 auf 2021 um acht Plätze auf Platz 150 von 180 zurückgefallen. Journalist*innen seien Angriffen von verschiedenen Seiten ausgesetzt, inklusive Polizeigewalt, und Repressalien, die von kriminellen Gruppen oder korrupten lokalen Beamt*innen angestiftet werden.
Korrupte Politik. Laut der NGO Association for Democratic Reforms waren gegen rund 43 Prozent der 2019 neu gewählten Abgeordneten der Lok Sabha („Volksversammlung“), der ersten Kammer des indischen Parlaments, Gerichtsverfahren anhängig, was einem Anstieg von 26 Prozent gegenüber 2014 entspricht. Die Liste der Anklagen reicht von Vergewaltigung bis zum Mordverdacht.
Blogger Mohapatra sieht die steigende Kriminalität, und konkret auch die Korruption, als eines der entscheidenden Probleme von Indiens Demokratie: „Die Wahl ist mittlerweile zum Spiel der Reichen geworden. Menschen mit kriminellem Hintergrund werden aufgrund von Geld und Muskelkraft gewählt.“
Mahatma Ghandi soll einst sinngemäß gesagt haben: „Die Welt hat genug für unsere Bedürfnisse, aber nicht genug für unsere Gier.“
75 Jahre nach der Unabhängigkeit und 73 Jahre nach der Ausrufung der Republik scheint Indien durch diese Gier der politischen Eliten Gefahr zu laufen, viele seiner Errungenschaften zu verlieren bzw. nicht ausreichend aufgestellt zu sein für zukünftige Herausforderungen.
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